Göttingen hat einen Slogan. Er lautet: “Die Stadt, die Wissen schafft”. Das finde ich für meinen eigenen Besuch hier sehr passend. Ich bin nämlich auch nach Göttingen gekommen, um mir Wissen zu verschaffen. Dabei helfen kann und wird mir Prof. Dr. Claudia Neu. Sie ist Inhaberin des Lehrstuhls für die Soziologie ländlicher Räume und hat sich seit Jahren auf wissenschaftliche Weise mit allen Facetten des Lebens auf dem Land beschäftigt. Als ich mit dem Pendlerzug in Göttingen ankomme, fällt mir allerdings gleich der Unterschied zu dem Bahnhof auf, an dem ich eingestiegen bin: Dort war der Parkplatz voll mit Autos. Hier scheint es mir so, als wären auch ein paar Leute mit dem Fahrrad unterwegs…
M: Ich bin ja hier nach Göttingen gekommen, um ein bisschen schlauer zu werden. Ich werde dir also eine Menge ganz unterschiedlicher Fragen stellen, die mich interessieren. Also gleich einmal zu Anfang: Wie tolerant sind eigentlich Dorfgemeinschaften gegenüber Leuten, die andere Vorstellungen haben?
C: Das ist pauschal schwer zu beantworten. Ich glaube aber, da hat sich in den vergangenen 50 Jahren einiges an Offenheit und Toleranz getan. Bisweilen halten sich aber doch langfristige „Etablierte-Außenseiter-Konstellationen“, wie der Soziologe Norbert Elias die Herausbildung sozialer Ungleichheiten beschreibt, die sich vor allem an der Wohndauer an einem Ort festmachen. So verwischen die Grenzen zwischen Einheimischen und Zugezogenen oft erst nach Jahrzehnten. Manchmal entstehen aber auch seltsame „Interessengemeinschaften“. Mir fällt da ein Beispiel ein aus einem kleinen Dorf in Mecklenburg mit 50 Einwohnern, das in einer stark schrumpfenden Region liegt. Mit Studentinnen und Studenten haben wir den Ort neben anderen in der Gemeinde Galenbeck beforscht. In diesem Ort gab es Mitte der 2000er Jahre eine Kommune in einem ziemlich verfallenen aber niedlichen Gutshaus. Da lebten zwölf Erwachsene mit vielleicht ebenso vielen Kindern. Unterschiedlicher hätten die ländlichen Lebensstile nicht sein können: hier das gepflegte Eigenheim mit Garten, dort die wuselige Landkommune. Sicher hat das die Alteingesessenen irritiert, dennoch waren sie froh über die Zugezogenen. Ich hörte Meinungen wie: „Die kriegen ihre Kinder zwar im Bauwagen, aber es gibt wenigstens wieder Kinder, da passiert mal wieder was.“ Also das kann schon funktionieren – vor allem dann, wenn keine oder sagen wir, keine zu starke „Assimilation“ von den Zugezogenen erwartet wird.
M: Ist es eigentlich tatsächlich so, dass man auf dem Dorf mehr Sozialkontakte hat?
C: Das kommt darauf an. In dem Sinne, dass man immer dieselben Leute sieht, ergeben sich sicherlich leichter Sozialkontakte. Aber was gern verwechselt wird: Wenn man eng zusammen wohnt, bedeutet das nicht, dass man auch sozial gleich ist. Das war noch nie so. Früher waren die Klassenschranken sogar besonders hoch, allein, wenn du zum Beispiel an den Bauern und die Magd denkst. Es gibt eine bekannte Studie von Jeggle und Ilien aus den späten siebziger Jahren. Dabei beschreiben sie das historische Dorf als „Not- und Terrorgemeinschaft“, also man hat sich schon in der Not geholfen, aber sich auch gegenseitig unterdrückt. So frei wie heute waren die Bewohner eines Dorfes noch nie. Den Namen des anderen zu kennen und sich auf der Straße zu grüßen, freundlich, aber distanziert, und das quasi als einzige echte Verpflichtung, das ist schon eine Errungenschaft.
M: Das also zum “früher war alles besser”…
C: Ja (lacht), das war mitnichten so.
M: Wenn mir das Dorfleben so gefällt wie es ist, unter welchen Umständen kann ich denn dann bleiben nach der Schule?
C: Das kommt sehr darauf an, wo das Heimatdorf liegt. Einerseits hat sich in vielen Regionen die Aus- und Arbeitsplatzsituation nicht wirklich verbessert. Der Abbau der öffentlichen Verwaltung in der Fläche, die Zentralisierung des Einzelhandels und der Agrarstrukturwandel haben auch Arbeitsplätze im ländlichen Raum gekostet. Da ist vieles weggebrochen, die Banken etwa schließen zunehmend ihre Zweigstellen auf den Dörfern. Aber für viele ist die Frage des Gehens oder Bleibens gar keine reale Option mehr. Spätestens zum Studium muss man dann weg. Andererseits suchen viele Handwerks- und Industriebetriebe händeringend Auszubildende – nicht nur im goldenen Süden der Republik. Wer im ländlichen Raum nahe einer Großstadt lebt, findet womöglich schnell einen Ausbildungsplatz und pendelt in die Stadt. Aber es geht eben nicht nur um Arbeitsplätze, sondern für viele, die weggehen, auch um einen städtischen Lebensstil, der mit der Vorstellung von Freiheit, Mobilität, sozialem Aufstieg und Kultur verbunden ist.
M: Und nach der Twen-Phase, wie sieht das mit Rückkehrern aus? Da gibt es ja mittlerweile eine ganze Reihe an Programmen. Ganz vorsichtig gefragt: Rückkehr, also einen Schritt zurück in eine von früher gewohnte Umgebung, das hat ja psychologisch ganz latent den Touch einer Niederlage. Wie kann ich denn das vermeiden?
C: Schwierig. Wenn du mit einer gewissen Attitüde, einer großen Geste gegangen bist, dann kannst du nur als Gewinner wieder zurückkommen. Du musst also drei Stufen über dem stehen, was du früher einmal warst. Und meist nicht nur darüber, sondern daneben, denn dir haben das Dorf und seine Struktur ja nicht gepasst. Klappt es mit dem Einreiten auf dem hohen Ross nicht, dann wird es schwierig. Es sei denn, und da kommen wir wieder zu dem Punkt des zwangsläufigen Weggehens, du hast das eben nicht so stark inszeniert. Du hast beim Weggehen nicht gesagt, „ich verlasse jetzt dieses verschlafene Dorf mit seinen doofen Leuten“. Sondern: „Beim besten Willen, ich würde schon gern bleiben, aber die Umstände zwingen mich zu gehen.“ Unter dieser Prämisse hast du den Bruch zum Heimatdorf nicht vollständig vollzogen, kommst zu Festen und Feiertagen zurück und kannst dann womöglich an alte Strukturen anknüpfen – ohne großen Gesichtsverlust.
M: Vorhin, bevor ich das Diktiergerät angeschaltet habe, hattest du einen Satz gesagt, den ich nicht ganz verstanden habe: Das Dorf soll immer noch ein Ort für Jungs sein. In welcher Hinsicht ist das so?
C: Das bezieht sich vor allem auf das traditionelle Freizeitverhalten. Wenn du an die Vereine denkst, zum Beispiel. Es gibt den Fußballverein, die Feuerwehr, den Schützenverein, den Männergesangverein… das alles sind Institutionen, die ursprünglich nur von Männern für “männliche Interessen” gegründet worden sind. Natürlich nehmen die mittlerweile auch Mädchen auf. Aber das hat ihren Charakter nicht zwangsläufig geändert, das ist nur eine Feminisierung eines weiterhin völlig männlich durchwirkten Freizeitraumes. Es gibt natürlich auch die Landjugend und die Landfrauen, mal eine starke Landfrauen-Vorsitzende oder auch eine Bürgermeisterin, aber…
M: Die Ausnahme bestätigt die Regel.
C: Sozusagen, genau.
M: Und was mache ich dann als Teenager, wenn mir das nicht gefällt? Wenn ich kein Interesse an Fußball oder Schießen habe?
C: Da hat sich viel geändert. Früher hatte der Einzelne keine großen Handlungsspielräume in dörflichen Zusammenhängen. Heute besteht zumindest die Möglichkeit, nicht mitzumachen, sich aber gleichzeitig in einem gewissen Maße zu globalisieren. Wenn ich anders bin als die anderen, dann setze ich mich zum Beispiel einfach in mein Zimmer und spiele via Internet mit anderen Mädchen und Jungs, denen es ähnlich geht. Früher konnte ich mir im besten Fall ein Buch nehmen, war aber letztlich wirklich einsam. Heute bin ich beim Gamen im Zimmer zwar auch allein, aber trotzdem irgendwie mit der Welt verbunden.
M: Gamer gibt es in der Stadt vermutlich auch… Was ist eigentlich noch der prinzipielle Unterschied zwischen Stadt und Land? Und was ist da in den letzten Jahren passiert?
C: Es macht Sinn zwischen den „realen“ Migrationsströmen, den Handlungspraxen der Menschen und den imaginierten Vorstellungen von Stadt und Land zu unterscheiden. Weltweit lässt sich der Trend zur Urbanisierung beobachten, Städte wachsen, ländliche Räume schrumpfen. Das ist jetzt sehr grob, denn zu diesen Megatrends gibt es auch immer (kleine) Gegentrends. Der ländliche Raum in Deutschland ist besonders vielfältig, doch auch hier gilt: je weiter weg von Agglomerationen, desto mehr schrumpft die Region. Besonders interessant ist aber, dass es auf der lebensweltlichen Ebene, also da, wo Menschen ihre Lebensumwelt und ihren Alltag gestalten, zu einer Vermischung der einstmals als getrennt erlebten Räume „Stadt“ und „Land“ kommt. Denn nicht nur das Land wird immer städtischer, etwa durch die Digitalisierung, sondern Menschen versuchen immer deutlicher, auch das Land in die Stadt zu holen, wir sprechen hier von Rurbanität. Die postmoderne Lebensgestaltung hat dazu geführt, dass wir uns einzelne Pakete schnüren können, mit wahlweise mehr städtischen und mehr ländlichen Elementen. Es gibt das Paket „Dörflichkeit in der Stadt“, also Urban Gardening, Nachbarschaftsfeste und vieles mehr. Zugleich gibt es die die Möglichkeit, städtische Elemente mit in das Land-Paket zu nehmen und einen Coworking Space auf dem Dorf aufzumachen. Zuletzt lohnt es sich aber noch einen Blick auf die mittlerweile unüberschaubare Anzahl an Land-Krimis, Dorfgeschichten und Landmagazinen zu werfen. Hier geht es ja in den meisten Fällen nicht darum, vor Ort aktiv zu werden, sondern sich ein Stück heile Welt auf den Balkon oder den Nachttisch zu holen. Land, und neuerdings auch wieder Heimat, sind positiv besetzte Begriffe, die den faden Geschmack von Rückständigkeit und Mief verloren haben, und stattdessen nun uneingeschränkt mit dem „guten Leben“ gleichgesetzt werden: Natur, Gemeinschaft, Muttis Küche. Dagegen ist erstmal nichts einzuwenden, solange die Sehnsucht nach der heilen Welt nicht „Andersdenkende“ ausschließt und völkische Ideen einer homogenen Gemeinschaft bedient.
M: Was ist denn wichtig für die ländlichen Räume? Angenommen, ich wäre der Staatskönig, worauf müsste ich denn achten, damit sich die ländlichen Räume gut und harmonisch entwickeln?
C: Für mich ist es immer noch entscheidend, den politischen Leitgedanken der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse fest im Blick zu haben. Diese politische Leitlinie, lebensnotwendige moderne Güter und Infrastrukturen möglichst gleichmäßig im Raum zu verteilen, hat nicht zuletzt den ländlichen Räumen genutzt: das Krankenhaus in Aurich, das Gymnasium in der Eifel. Die Angleichung der räumlichen Ausstattung mit öffentlichen Dienstleistungen wie Bildung, Mobilität und Gesundheit hat nicht nur zu einer räumlichen Angleichung geführt, sondern auch zu einer sozialen Angleichung. Der in den 1960er Jahren benachteiligten „katholischen Arbeitertochter vom Lande“ ging es in den 1980er Jahren im Hinblick auf ihre Bildungschancen nahezu so gut wie dem „protestantischen Bürgersohn aus der Stadt“. Die Vernachlässigung des Gleichwertigkeitsgrundsatzes hat nun aber dazu geführt, dass periphere ländliche Räume und städtische Problemzonen mehr und mehr abgehängt worden sind und die Menschen dort nicht die gleichen Lebenschancen wie in den prosperierenden Regionen haben. Müssen Menschen nicht nach einem Herzinfarkt nur deshalb sterben, weil das nächste Krankenhaus 75 Kilometer weit entfernt ist? Oder lassen wir Kinder aus bestimmten Stadtteilen zurück, limitieren sie in ihren Lebenschancen, weil sie an einem bestimmten Ort wohnen? Die Bildungspolitik etwa zeigt immer wieder, dass der Aufstiegswille allein nicht genügt. Bildungschancen sind in Deutschland nach wie vor strikt schichtspezifisch verteilt, es braucht unterstützende Institutionen, ausreichende Infrastrukturen und politischen Willen, dies zu ändern. Eine weitere Polarisierung der Gesellschaft bedeutet eben nicht nur Pech für den Einzelnen, sondern ist auch eine Gefahr für die Demokratie.
M: Gibt es denn noch etwas zu erforschen, was dich besonders interessiert?
C: Natürlich, jede Menge! In den letzten Jahrzehnten ist wahrlich nicht sehr viel über ländliche Räume geforscht worden. Es gibt schon ein paar tolle Mitstreiter, beim Thünen-Institut oder auch an anderen Unis, aber sehr viele sind wir nicht. Also was würde mich noch interessieren? Eine Landfrauenbefragung steht unbedingt an, darüber wissen wir fast gar nichts mehr. Frauen auf den Höfen, das ist auch ein großes Thema für meine Studierenden. Dann der Wandel der ländlichen Lebensverhältnisse, was sich da im Moment gerade ziemlich schnell tut. 9.000 Milchbauern haben in den letzten drei Jahren aufgegeben – was bedeutet das? Wie sieht es mit der Armut auf dem Land aus? Mit der Jugend? Oder das Thema der Idyllisierung von Kindheit auf dem Dorf. Dann die sozialen Orte, also Orte, die Menschen miteinander verbinden, Zusammenhalt stiften. Wie kann das auch in Zeiten der Digitalisierung funktionieren? Was braucht es dafür? Dazu forsche ich gerade ganz aktuell.
M: Kommst du eigentlich selbst vom Dorf?
C: Nein, ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen, aber in einer wenig idyllischen Umgebung. Braunkohle, Kokereien, verpennter Strukturwandel. Also in gewisser Hinsicht schon eine benachteiligte Gegend…
M: Was müsste denn für dich ein Dorf besitzen, damit du dich dort wohlfühlst?
C: Jetzt in meiner konkreten Lebenssituation? Das Dorf müsste verkehrstechnisch gut angebunden sein. Ich gehöre ja zu diesen Multimobilen, also zu Fuß, mit dem Fahrrad, Auto, Mietauto, Zug, Flugzeug – Arbeits- und Familienort liegen ja, wie bei den meisten, nicht mehr zusammen. Nur ein Moped habe ich nicht, das ist aber auch das einzige. Dann benötige ich natürlich einen verlässlichen und schnellen Internetanschluss, das versteht sich von selbst. Wenn es landschaftlich schön ist, hilft das natürlich auch noch, aber das wird vielleicht überschätzt. Und die nächste Großstadt dürfte nicht zu weit weg sein. Und eine Kneipe wäre schön, damit man sich mit anderen Menschen treffen kann, das müssen noch nicht mal Gleichgesinnte sein. Also so ein Weiler im dunklen Wald, das wäre eher nichts für mich.
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Also alles nicht so einfach, ich hätte es mir ja denken können. Stadt und Land sind eben keine fix definierten Gegensatzpaare. Trotzdem bin ich natürlich ein großes Stück klüger geworden in, nun ja, der Stadt, die Wissen schafft. Welche zentralen Aussagen habe ich also mitgenommen aus unserem Gespräch? Erst einmal natürlich, dass die klassischen Vereinsaktivitäten auf dem Dorf sämtlich männliche Freizeiterfindungen sind, und das prägt sie bis heute. Dann aber, dass das Leben auf dem Dorf noch nie so frei war wie heute. Und dass sich die Menschen hinsichtlich ihres Wunsches nach Teilhabe am globalen Leben gar nicht so stark von Städtern unterscheiden. Die Gefahr lauert aber im Realen: Denn wenn ich von der Prämisse ausgehe, dass die Menschen überall gleich talentiert und gleich viel wert sind, dann muss ich auch etwas dafür tun, dass sie möglichst überall ähnliche Chancen besitzen. Tut sich die Schere weiter auf, ist auch das Gemeinschaftsgefühl in Gefahr.
Nun gilt es, dieses Gedankenfutter aufzunehmen und noch einmal im Innern rotieren zu lassen. Eigentlich war es bei mir schon immer so, dass ich meine Gedanken am besten sortieren konnte, wenn ich ein bisschen in der Natur herumstrolche. Vielleicht sollte ich genau das für den nächsten Artikel auch tun…
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