Wer über Neues auf dem Dorf berichtet, für den ist es durchaus erhellend zu erfahren, wie es denn früher war. 1968 ist ja nicht nur eine Jahreszahl wie jede andere, jetzt genau 50 Jahre her, sondern die mit diesem Jahr verbundenen sozialen Umwälzungen in der Gesellschaft sind derzeit Thema in vielen Medien. Aber gab es so etwas tatsächlich auch auf dem Dorf? Und wie muss man sich das Dorfleben der 1960er für junge Leute überhaupt vorstellen? Hermann hat damals in einem solchen kleinen Dorf in Niedersachsen gelebt. Er hat sich lange Haare und einen Bart wachsen lassen – und ist dann sehr jung schon in die Stadt gezogen. Das hat mich interessiert, und deshalb habe ich ihn besucht.
M: Wie alt warst du, als du aus dem Dorf weggegangen bist?
H: 15. Ich bin mit 15 zur Ausbildung weggegangen. Das war wirklich sehr früh, zu früh möchte ich aus heutiger Sicht sagen.
M: Wie ist das passiert?
H: Das war damals die Zeit des Kurzschuljahrs, das heißt, ich hatte mit 15 schon die Mittlere Reife in der Tasche. Ich hätte in der Fabrik als Ungelernter anfangen können, da hätte ich gleich deutlich mehr verdient. Aber mein Vater sagte mir immer: “Junge, nicht ins Werk!” Er arbeitete nämlich dort und wusste, was Akkordarbeit bedeutet. Also habe ich mich auf Bürojobs beworben. Von drei Bewerbungen habe ich zwei Absagen und eine Zusage bekommen. Also habe ich das dann gemacht.
M: Was war das?
H: Verwaltung. Bei der Bezirksregierung. Das war bei meiner Bildung das Mögliche, was ich erreichen konnte. Ich hatte allerdings überhaupt keine Vorstellung davon, was ein Regierungsinspektor sein sollte. Klar war nur: Mit der Zugfahrt wären das jeden Tag dreizehneinhalb Stunden gewesen. Das war mir einfach zu viel. Außerdem habe ich mich zu der Zeit nicht so gut mit meinem Vater verstanden. Ich konnte es also argumentativ auf die beruflichen Umstände schieben, nicht mehr zu Hause wohnen zu können. An der Wochenenden bin ich aber wieder im Dorf gewesen.
M: Hast du irgendwas aus dem Dorf vermisst? Hattest du noch Freunde dort?
H: Richtig vermisst habe ich wenig. Und mit den Freunden, das ist eine Definitionssache. Freunde im engeren Sinne hatte ich kaum. Man hat sich getroffen, alle haben sich gekannt. Ich war beim Fußball zum Zugucken, vorher noch im Turnverein… Es gab ein paar Treffpunkte, meistens Kneipen oder Vereine, aber das war’s. Später ist man auch mit dem Auto in die Disco gefahren. Aber ein richtiger Zusammenhalt, so eine Dorfjugend als Ganzes, das gab es nicht.
M: Im Interview mit der Soziologin Claudia Neu hatte sie mir quasi als Headline gesagt, dass das Dorf immer noch primär ein Ort für Jungs wäre. Wie war das damals?
H: Das war damals auch ausgeprägt, sogar noch deutlich mehr als heute. Später gab es wie gesagt dann mal eine Disco in einer Gaststätte oder auch eine private Feier, aber ansonsten war das öffentliche Freizeitleben absolut männlich geprägt. Die Mädchen hat man kaum gesehen. Aber abgesehen von den fehlenden Angeboten, so schrecklich viel Freizeit hatte man als Jugendlicher damals auch gar nicht. Ich war eingebunden durch die Hunde, Ziegen hatten wir damals noch, Hühner, allerlei Getier, dazu die Wiese. Es war völlig normal, neben der Arbeit noch ein bisschen Landwirtschaft zu haben. Am liebsten habe ich übrigens meiner Mutter in der Küche geholfen.
M: Und wie war das im Hundeverein, von dem du mir vorhin erzählt hast?
H: Ach ja. Da hat mich mein Vater quasi hingezwungen. Eigentlich mochte ich Hunde wirklich sehr gern, aber was für schreckliche Leute es da gab! Das kannst du dir gar nicht vorstellen. Die wollten “beherrschen”, die wollten “das Tier unterordnen”. Da war nie ein freundlicher Ton, sondern immer nur Druck, gehorchen, gehorchen, gehorchen. Und prügeln, wenn das Tier nicht gehorchte. Schlimm!
M: Glaubst du, dass das auch noch Überbleibsel aus der Nazizeit waren?
H: Darüber denke ich viel nach. Mit Sicherheit war das so. Wenn es um die Nazizeit geht, dann steht da natürlich in der Rückschau logischerweise immer das Politische im Vordergrund. Aber was man nicht vergessen sollte: Auch die Art des Umgangs miteinander war davon geprägt. Der Gehorsam gegenüber den “Oberen”, das Niedermachen der “Unteren”, diese Grobheit allgemein, das war in vielen Bereichen noch deutlich spürbar. Wobei man fairerweise sagen muss, dass es in jedem Dorf unterschiedlich war. Unser Dorf war durch das Werk seit jeher stark sozialdemokratisch geprägt. Man war auch Neuzuzügler gewohnt, die Gießerei gab es seit dem 18. Jahrhundert, da sind also immer Leute zum Arbeiten gekommen. Aber wie gesagt, das sah im Nachbardorf – dem mit dem Hundeverein – schon völlig anders aus, das war ein anderer Schlag Mensch sozusagen. Und das nur wenige Kilometer weiter.
M: Und was hat sich 1968 in deinem Dorf dann geändert?
H: Ich habe das in den Anfängen bei uns primär als Modebewegung junger Leute in Erinnerung. Demonstrierende Studenten gab es bei uns ja keine, die große Politik erschien weit weg. Aber Mode und Musik, das war anziehend, so wollten wir auch sein, und damit kam eigentlich alles ins Rollen. Es gab zum Beispiel die Schlaghosen. Mit Kellerfalte, sowas kennst du gar nicht, die waren noch weiter ausgestellt als die normalen. Da guckten viele ältere Leute schon eigenartig. Aber irgendwie ging das so schnell, auf einmal hatten alle Jugendlichen solche Hosen, haben sich die Haare wachsen lassen. Da war ich nicht der einzige.
M: Wann hattest du beschlossen, dir einen Bart wachsen zu lassen?
H: Ach, schon immer (lacht). Da hatte ich noch gar keinen Bartwuchs und wusste schon, wenn da etwas wächst, dann lasse ich es stehen. Damit war ich der Zweite im Dorf. Aber wie gesagt, das ist alles so schnell gegangen, das war ein richtiger Bruch.
M: Hattest du dann auch wegen deines Aussehens keinen Ärger im Dorf?
H: Naja, hinter vorgehaltener Hand gab es sicher Kommentare. Aber richtige Stänkereien waren selten. Nur in der Kneipe, da bin ich einmal ganz übel angemacht worden.
M: Und wie ging das aus?
H: Mit einer Prügelei natürlich. Beim Schützenfest war das auch regelmäßig so. Diese Knüppeleien gingen zwar immer nur von einzelnen Leuten aus, aber so war das damals noch. Andere Formen der Konfliktbewältigung.
M: Wenn du die damalige Zeit mit heute vergleichst, ist das Dorfleben heute attraktiver?
H: In Teilen sicher. Ganz konkret kann ich das nicht beurteilen, weil ich ja nicht mehr auf dem Dorf lebe. Aber die Gesellschaft ist insgesamt schon toleranter geworden, die 68er Zeit hat im Nachgang einiges bewegt, jetzt sind auch auf dem Dorf andere Lebensentwürfe möglich. Weniger anonym natürlich als in der Stadt, aber man kann das schon machen. Ansonsten hat sich halt vieles verändert. Die Bedeutung des Vereinslebens hat sicher abgenommen, die Motorisierung dafür zugenommen, und die Digitalisierung steht eigentlich erst am Anfang. Das wird viel vereinfachen, aber es hat natürlich auch Auswirkungen auf die Infrastruktur. Dass es die Dorfläden kaum mehr gibt, das würde ich persönlich sehr vermissen, wenn ich auf dem Dorf leben würde. Klar, Amazon kommt und bringt dir deine Klamotten ins Haus. Aber bei Obst und Gemüse gehe ich lieber hin, gucke es an und nehme dann, was mir gefällt. Und das andere lasse ich liegen.
M: Könntest du dir vorstellen, wieder aufs Dorf zurückzugehen?
H: In meiner jetzigen Situation nicht mehr. Natürlich ist es schön auf dem Dorf. Weniger Autos. Mehr Grün. Ein gutes persönliches Verhältnis, wenn man nette Nachbarn hat. Und wenn man einen Hund hat, ist das wesentlich besser auf dem Dorf. Aber ich habe mich daran gewöhnt, dass alles hier nur ein paar Schritte entfernt ist. Einkaufen, Ärzte, das wird alles wichtiger, wenn man älter wird. Eine Kleinstadt ist da noch etwas anderes, das könnte ich mir schon vorstellen, aber so richtig auf dem Dorf zu leben, nein, das reizt mich nicht mehr.
M: Was würdest du deinem Kind heute raten, wenn ihr auf dem Dorf leben würdet?
H: Hm. Ich würde sagen, mach, was du für richtig hältst. Bleib, wenn du willst oder geh, wenn du willst. Wir sind immer für dich da, aber du musst dein Leben leben und gestalten, wie du es möchtest. Jeder Mensch ist unterschiedlich, und was einem wirklich liegt, findet man erst dann heraus, wenn man es auch macht.
So endet unser Gespräch an einem heißen Tag nicht bei der Vergangenheit vor 50 Jahren, sondern bei persönlichen Zukunftsvorstellungen. Hermann steht auf dem Balkon, raucht eine Zigarette und lässt seinen Blick schweifen über die Umgebung, über andere Balkons und das Rasenstück, umgeben von Zweckbauten der 70er Jahre. Ist das der Kompromiss, den man eingehen muss? Vom Schönen etwas wegnehmen, dafür vom Praktischen etwas bekommen?
Ziemlich kompromisslos hingegen dürften meine nächsten Gesprächspartner sein. Basti (ja, schon wieder einer) ist auf einer Nordseeinsel aufgewachsen und führt jetzt mit seiner Frau Britta aus Hamburg ein winziges Weingut in Franken. Das sind doch landschaftliche und berufliche Rahmenbedingungen, die sich nach einem sehr starken Wandel anhören…
Pingback: Ach wie schön ist es auf dem Land... - Chez MatzeChez Matze